Sonntag, 22. August 2010

„Die Fatah traut der Hamas nicht. Aus gutem Grund.“

Interview mit Joseph Croitoru

Joseph Croitoru, Autor des Buches „Hamas“, ist Journalist und Nahost-Experte. Im Interview mit Cicero Online spricht er über die Zwangsislamierung Gazas durch die Hamas, das Siedlungsbau-Moratorium und Israels Außenminister Avigdor Lieberman.

Der Untertitel Ihres Buches lautet „Auf dem Weg zum palästinensischen Gottesstaat“. Wie weit ist der Gazastreifen auf diesem Weg?

Der Prozess ist schon weit fortgeschritten. Die rechtlichen Grundvoraussetzungen wurden teilweise schon geschaffen. Es hängt eigentlich nur von einer Entscheidung der Hamas-Führung ab, einen eigenen islamischen Gottesstaat auszurufen. Aber das wiederum ist vom Verlauf des innerpalästinensischen Dialogs abhängig, den die Hamas und ihre säkulare Rivalin Fatah zumindest offiziell fortsetzen wollen. Er wurde unterbrochen, als die Hamas im Sommer 2007 putschte. Beide Seiten wollen nun zeigen, dass sie sich für die palästinensische nationale Einheit einsetzen, keine möchte unpatriotisch erscheinen. Resultate fehlen aber bislang, denn keine der Seiten traut der anderen, und die Hamas scheint nicht wirklich an einem Übereinkommen interessiert zu sein. Die Teilung der Macht mit der Fatah würde ihre Herrschaft in Gaza, aber auch ihren Anspruch, die Westbank für sich zu erobern, gefährden.

Wie viel Beteiligung fordert denn die Hamas an einer gemeinsamen Regierung? An ihren zu hohen Forderungen scheiterte es ja schon einmal.

Nicht alles dringt nach außen, sicherlich wird aber die Hamas in jedem Fall versuchen, ihren militärischen Arm zu behalten.

In der Vergangenheit ging es immer wieder um die Kontrolle der Sicherheitskräfte. Die Fatah wollte, dass die Hamas ihre Kontrolle abgibt...

Und vice versa. Dieser Streit ging dem Putsch der Hamas voraus. Sie entschied diese wichtige Frage einfach mit Gewalt. Nach diesem totalen Bruch mit den Regeln der Koexistenz traut die Fatahführung der Hamas nicht mehr - und das aus gutem Grund.

In ihrem Buch sprechen Sie von einer Zwangsislamierung des Gaza-Streifens durch die Hamas. Wie geht diese vonstatten?

Die Hamas hat eine Doppelstrategie. Einerseits wird die Absicht erklärt, dass irgendwann die Umwandlung der Gesellschaft in eine islamische Gesellschaft nach den Gesetzen der Scharia vollzogen wird. Einige wurden schon erlassen, wie z.B. das „Zakat-Gesetz“, das die Verteilung von Almosen regelt, was ein wichtiger Grundsatz in der islamischen Religion ist. Aber parallel zu dieser offiziellen Ebene wird dann auch auf den Straßen die Bevölkerung kontrolliert. Die Hamas hat eine Sittenpolizei...

...hat sie schon einen offiziellen Sittenkatalog?

Sicher jedenfalls ist, dass sie daran arbeitet. Neuerdings wurde zum Beispiel Frauen das Rauchen von Wasserpfeifen verboten, aber das Verbot wurde nach Protesten wieder zurückgenommen.

Also reagiert die Hamas auch auf Proteste?

Je nachdem, wie stark diese ausfallen. Vor einem Jahr wollte man Rechtsanwältinnen zwingen, vor Gericht eine spezielle, alles bedeckende Robe und ein Kopftuch zu tragen. Diese Anweisung wurde nach heftigen Protesten auch aus der Westbank zurückgenommen - aber nur mündlich. Eigentlich besteht sie weiter, und es kann sein, dass im Fall der Wasserpfeifen ähnlich verfahren wird. Erst vor wenigen Tagen hat die Hamas-Polizei Ladenbesitzern verboten, Damenunterwäsche in Schaufenstern auszustellen. So geht es in kleinen, aber steten Schritten immer weiter. Bei der Zwangsislamisierung werden noch weitere Strategien angewandt, wie Propagandakampagnen für den Islam und anonymer Terror gegen westlich orientierte Einrichtungen wie Kaffeehäuser, Internetcafés etc. Die Überfälle werden nicht aufgeklärt. Sie sind offenbar auch von der Regierung mitinszeniert und schüchtern die Bevölkerung ein.

Hat denn die Hamas die breite Zustimmung in Gaza, die sie proklamiert zu haben?

Das ist schwer zu beurteilen. Die Presse und die Medien in Gaza werden komplett von der Hamas kontrolliert. Unliebsamen Journalisten wird verboten, aus dem Gazastreifen zu berichten. Nicht einmal von der Westbank aus kann man einschätzen, wie groß die Unterstützung für die Hamas ist.

Inwiefern ist die Hamas besser organisiert als die Fatah?

Die Hamas blieb zunächst im Untergrund und baute vor Ort ihre Institutionen auf – im Unterschied zur Fatah, die sich institutionell vor allem im Exil entwickelt hatte. Die Israelis verfolgten in den Palästinensergebieten in den Siebziger-, Achtziger- und teilweise noch in den Neunzigerjahren vor allem die Fatah, während die Aktivitäten der Hamas zumindest in der Anfangsphase, als ihre Aktivisten noch als Muslimbrüder auftraten, von der israelischen Regierung toleriert wurden. Das war ein Fehlkalkül. Israel hatte nicht erkannt, dass es mit den Muslimbrüdern einen Golem schuf.

In welchem Ausmaß und auf welche Weise unterstützt der Iran die Hamas?

Die Hamas steht dem Iran schon seit den späten achtziger Jahren nahe. Die Hamas ist Teil einer Achse, die sich über den Libanon und Syrien nach Iran erstreckt. Und der Iran ist an jeder Art von militärischem Widerstand gegen den israelischen Staat interessiert, weil zu der Gründungsideologie der islamischen iranischen Republik auch die Vernichtung Israels gehört. Egal, wie Ahmadinedschad das umformuliert, war es ein Grundsatz von Khomeinis Ideologie. Das ist auch das erklärte Ziel der Hamas, es existiert also eine Interessengemeinschaft. Schon in ihrer Gründungscharta von 1988 ist die Vernichtung Israels angestrebt, und das hat sich nicht geändert. Der Iran versucht, die Hamas mit Geld, Waffen und militärischem Knowhow zu unterstützen. Sie hat kleine Waffenfabriken im Gazastreifen, die nachweislich mit Knowhow des Iran arbeiten. Militärexperten haben Gemeinsamkeiten zwischen der Waffentechnik des Iran und der der Hamas festgestellt.

Es gab 2009 einen Zuwachs von 12,5 % auf dem palästinensischen Aktienmarkt und ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 8 Prozent. Wie ist dieses beachtliche Wirtschaftswachstum in der Westbank zu erklären?

Die Wirtschaft in der Westbank erholt sich, weil die Lage dort einigermaßen befriedet ist und die Menschen ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten entfalten können. Der palästinensische Premierminister Fayyad, ein Wirtschaftsfachmann, unterstützt palästinensische Kleinunternehmer. Man muss aber die Ausgangslage in Betracht ziehen: Wenn die Wirtschaft lange stagniert oder rückläufig ist, wie es jahrelang aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzung der Fall war, dann ist natürlich jede kleine Veränderung in der Relation schon ein großes Wachstum.

Hatte der umstrittene Bau der Sperranlage Auswirkungen auf die Befriedung der Westbank?

Die Befriedung durch die Sperranlage gilt nur für die israelische Seite. Die Palästinenser hingegen sind nach wie vor durch die dort anwesenden Siedler gefährdet, die die israelische Regierung nicht immer kontrollieren kann und will. Es gibt immer noch Überfälle von Siedlern auf palästinensische Dörfer, die auch von der israelischen Justiz nicht immer konsequent geahndet werden. So bleibt die Westbank eine Grauzone, in der die Siedler das Gefühl haben, frei agieren zu können.

Vor kurzem gab es wieder Proteste gegen das Siedlungsbau-Moratorium, das im September endet. Ist eine Verlängerung überhaupt möglich?

Die Siedlungspolitik ist seit Jahren praktisch ungestört, auch trotz Absichtserklärungen und Moratorien...

Sie meinen die Siedlungspolitik wird weiterhin betrieben, trotz des Moratoriums bis zum 26. September?

Man muss immer genau hinschauen, was solche Moratorien enthalten und ob und wie sie auch tatsächlich umgesetzt werden. Derzeit jedenfalls entwickelt sich der Siedlungsbau in der Westbank weiter, woran das Moratorium wahrscheinlich kaum etwas ändern wird.

Glauben Sie also, das Moratorium wird im September nicht verlängert?

Dies hat Netanjahu ja schon selbst angedeutet, im Falle einer Verlängerung verlöre er sein Gesicht. Die Fortsetzung der israelischen Siedlungspolitik ist Teil seiner Regierungsagenda. Wie, wo und in welchem Ausmaß gebaut wird, ist eine andere Frage, aber der Ausbau der Siedlungen dürfte auch weiterhin stattfinden.

Der Siedlungsbau ist neben den Grenzen von 1967 auch eine Bedingung von Abbas für direkte Friedensgespräche...

Ich glaube, die Netanjahu-Regierung ist nicht wirklich daran interessiert, mit Abbas Verhandlungen zu führen, denn die Situation zwischen Israel und der PA in der Westbank ist weitgehend friedlich. Niemand hat ein Interesse an einer Eskalation. Dass Abbas einen Siedlungsbaustopp zur Vorbedingung für Verhandlungen gemacht hat, ist problematisch. Eine solche Äußerung kam den Israelis nur recht, und so konnte Netanjahu dann auch argumentieren, dass es noch nie Vorbedingungen zu Friedensverhandlungen von palästinensischer Seite gegeben habe. Es sei schließlich Sinn von Verhandlungen, über Bedingungen zu sprechen, behauptet er. Für Abbas war das ein Rückschlag, für die israelische Regierung dagegen ein willkommener Vorwand, um die Verhandlungen hinauszuschieben.

Hat Netanjahu überhaupt eine langfristige Strategie für den Friedensprozess?

Wenn überhaupt, dann ihn zu verzögern. Diese Strategie hat er schon in seiner ersten Amtszeit Mitte der neunziger Jahre verfolgt.

Wie schätzen Sie Liebermans umstrittene Ankündigung ein, den Gazastreifen vollends abzukoppeln und die Verantwortung für das Gebiet der internationalen Gemeinschaft zu übergeben?

Das ist wieder eines seiner berühmten Gedankenspiele, für die er dann von Netanjahu gleich eine Rüge erteilt bekommt. Daran zeigt sich aber einmal mehr die Schwierigkeit der Israelis, mit dem Gazastreifen und der Hamas umzugehen. Im Grunde würden sie gerne bei der Kontrolle des Gazastreifens entlastet werden. Das ist nachvollziehbar, denn die kostet Israel viel Geld und militärischen Aufwand. Lieberman meint wahrscheinlich, dass zumindest die Kontrolle der Zugänge zum Hamasgebiet von der EU übernommen werden könnte. Wichtiger war seine jüngste Einladung an die EU-Außenminister, nach Gaza zu reisen, um sich vor Ort ein Bild von der wirklichen Lage zu machen. Liebermans Absicht war hier offenbar eine Korrektur der Wahrnehmung Gazas in Europa. Eine solche hat auch bereits eingesetzt, EU-Außenministerin Ashton war ja mittlerweile dort. Entgegen der offiziellen Politik der EU war für die Hamas der Besuch von Frau Ashton im Gazastreifen eine de-facto-Anerkennung ihrer Herrschaft. Auch die Absichtserklärung des französischen Außenministers Kouchner, im September mit europäischen Amtskollegen nach Gaza zu reisen, ist von Hamas-Ministerpräsident Haniyeh nur allzu gern als eine Einladung zum Dialog ausgelegt worden. Und so hat er dann seinerseits die EU-Vertreter eingeladen, mit der Hamas Gespräche aufzunehmen. Für die Hamas sind solche Äußerungen ein enormer propagandistischer Gewinn, den sie auch sehr gut in ihren eigenen Medien darzustellen versteht.

In den letzten Tagen wurde über den baldigen Rücktritt Liebermans spekuliert. Würde das dem Friedensprozess eine neue Wende geben?

Wohl kaum, denn Lieberman hat keine große Entscheidungsmacht in Fragen, die wirklich den Kern des Friedensprozesses betreffen. Er ist jedoch für den Teil der israelischen Außenpolitik, die nicht die arabische Welt betrifft, sehr wichtig. Er baut konsequent die Beziehungen der israelischen Regierung zu Russland aus und schafft so eine Konkurrenzsituation zu den Amerikanern. Er bemüht sich auch sehr energisch um den Aufbau der Beziehungen zu Indien und China. Lieberman ist eine facettenreichere und auch für die israelische Außenpolitik gewichtigere Person, als sie uns manchmal im Westen erscheint.

Ihre Prognose für Israel in der nächsten Zeit?

Man muss die ganze Region in den Blick nehmen. In den letzten Jahren fand ein ständiger Radikalisierungsprozess in dem von der Hamas kontrollierten Teil der palästinensischen Gesellschaft statt, im Gegensatz zur Westbank. Vieles hängt auch von Ägypten ab. Wenn der westlich orientierte Mubarak nicht mehr Präsident ist, dann wird sich vermutlich die Auseinandersetzung mit den Muslimbrüdern, die ja die Mutterbewegung der Hamas sind, noch verschärfen. Dies könnte zu einer Sogwirkung führen und die gesamte Region noch zusätzlich radikalisieren. Was den militanten Islamismus anbelangt, so gibt es ähnliche Tendenzen in Jordanien und im Irak, Prognosen über die Türkei sind derzeit nicht möglich. Aber solange Israel die Gefahr, die von der Hamas ausgeht, minimieren kann, wird es kein großes Interesse daran haben, den Status quo entscheidend zu verändern.

Vielen Dank für das Interview Herr Croitoru!

Die Fragen stellte David Vajda

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Quelle: Cicero

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